Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 20. Januar 1944

den 20.1.44

Liebster Mann!

Heute ist so richtig der Tag, an dem alles schwer ist. Ich bin nicht in Ordnung, draußen rieselt es unentwegt weiter, die Kinder sind quarrig, überall sehe ich Löcher und Flecken, und was man tut, nichts klappt. Helga hat dazu eine ihrer Heultouren. Sie soll heute zum Nachsitzen in die Schule kommen, und weil sie sich nach Tisch elend fühlte, genau wie Heidi, Reaktion auf die gestrige Impfung, hatte ich beide zum Mittagsschlaf ins Bett gesteckt, Helga dann auch zeitig genug geweckt, aber sie wurde dann mal wieder nicht fertig und tobte und schrie ab fünf vor drei, dass ich sie nicht aus dem Haus bekam. Sie hat dann solche Angst vor Schimpfe in der Schule, dass nichts in der Welt sie hinbringt. Ich kenne das. Man kriegt sie dann weder mit Güte noch mit Überredung noch mit Ohrfeigen aus dem Haus.

Nun habe ich es aufgesteckt, und sie muss sehen, wie sie dann morgen in der Schule damit fertig wird. Man ist auch oft so belastet von den Schwierigkeiten des Tages, dass es einem wurscht ist, was noch geschieht.

Klaus z.B. hat nur noch völlig zerrissene Schuhe und muss damit bei diesem Regenwetter in die Schule. Seit dem 14. Dezember versuche ich, meinen großen Schuhbeutel mit zerrissenen Schuhen beim Schuster loszuwerden.

Ich weiß bald nicht mehr, was ich machen soll. Mal hatte er kein Leder, dann machte er vor Weihnachten acht Tage zu, dann kam ich um viertel vor fünf, und er hatte die Annahme ausnahmsweise an diesem Tag um drei Uhr geschlossen, dann hatte er geschlossen, weil er umbaute und Arbeiter bekommen sollte, nun hat er die Arbeiter nicht gekriegt, und es liegen noch 400 Paar Schuhe dort, und was ich nun am nächsten Montag für einen Bescheid bekomme, weiß ich nicht. Und bei einem anderen Schuster kann man sich ja während des Krieges nicht eintragen lassen, es wäre ebenfalls sinnlos.

Inzwischen zerreißen die schon kaputten Schuhe immer mehr, und ich kann es nicht ändern. Abgesehen von den anderen Kindersachen, die auch immer mehr kaputtgehen. Ich weiß nicht mehr, wie ich das mit der Flickwäsche schaffen soll. Wenn dann die Blagen an einem solchen Tage noch quarrig sind, ist es, um aus der Haut zu fahren. Ich tue es aber nicht, sondern gebe ihnen höchstens ein paar um die Ohren, und abends mache ich ihnen ein besonders leckeres Abendessen und tue sie früh, in die Betten. Dann sind Mutter und Kinder vergnügt.

Immerhin spendiert Omi gleich ein paar von Ernstens Kaffeebohnen, und dazu gibt es Weißbrot und Vollkornbrot, so dass der Tag dann doch wenigstens einen gemütlichen Punkt hat. Außerdem wird uns der Kaffee aufmöbeln, so dass wir den Endspurt dieses Tages schaffen können.

Heute kam Dein Brief, indem Du von einer eventuellen Verlegung schreibst. Das hat mich natürlich auch nicht glücklicher gemacht, besonders, was die Aussicht auf den Kurzurlaub betrifft.

Kannst Du es nicht doch ermöglichen zu kommen? Mit Rücksicht auf Mutter, bei der man jedoch nicht weiß, wie es wird, wenn auch augenblicklich keine Gefahr besteht, und auf die Steuererklärungen? Da ist Deine, die von Engels, Weil, Holbach usw. Steuererklärungen kann ich auf jeden Fall ohne Dich nicht machen und tue es auch nicht. Sollen sie sehen, wo sie sie herkriegen.

Ach, liebster Mann, ich hatte mich auf den Anfang Februar gefreut, und nun wird es wohl nichts. Andererseits kriegt man eine Elefantenhaut. Ich glaube, es kann sehr viel passieren, ehe man sich jetzt noch aufregt. Ändern kann man alles nicht, folglich lässt man die Dinge an sich herankommen: irgendwie geht es dann doch weiter. Es hat auch keinen Zweck, sich mit Tatkraft und Plänen abzustrampeln, wie es früher meine Art war. Wir sind so völlig Ball des Schicksals geworden, dass wir auf die Formung unseres Lebens augenblicklich doch überhaupt keinen Einfluss haben.

Wer weiß, wie lange ich unsere Wohnung behalte? Wer weiß, wie lange ich mit den Kindern hier noch bleibe oder ob sie mir nicht in eine andere Gegend verschickt werden? Die Bonner Kinder aus der Innenstadt und aus Beuel werden schon evakuiert. Gestern stand ein offener Brief an die Eltern in der Zeitung. Die Kölner Kinder kommen auch fort. Ich glaube, käme es so weit, ließe ich die Wohnung im Stich und ließe mich mit den Kindern evakuieren. Dann hätte ich alle wenigstens unter Aufsicht und wäre bei ihnen, auch wenn ich in dem betreffenden Heim dann arbeiten müsste. Das kann glaube ich gemacht werden.

Ach Paps, dieser Brief ist dieses Regentages würdig. Morgen sehe ich die Welt vielleicht schon wieder anders an. Zudem kommt ein schöner Film nach langer Zeit, in der ich nicht mehr drin war, ein Film, der so recht was für das Regenwetter ist: 'Gabriele Dambrone' mit Gusti Huber, Siegfried Breuer und Ewald Balser. So richtig ein bisschen Zucker und Honig für eine miesgestimmte Seele.

Viele liebe Küsse

Deine Lotti