Harald Endemann an seine Frau Charlotte, 2. November 1940

Reinsehlen, den 2.11.40

Mein liebes Lottenkind,

Du hast recht, ich habe Dich schlecht behandelt, aber es ist bestimmt kein schlechter Wille oder da Krankheit. Die Krankheit ist überwunden. Es ist einfach ein völliges Erschöpftsein der physischen und seelischen Kräfte. Die anfänglich noch vorhandene sehr knappe Freizeit ist vollständig verschwunden, d.h. sie besteht theoretisch weiter, ist aber praktisch ausgefüllt durch 1000 Dinge, die gemacht werden müssen und für die sonst keine Zeit vorhanden ist. Leider, leider verlässt uns übermorgen auch zu allem Schreck noch unser prächtiger Unteroffizier, um auf die Kriegsschule zu gehen, da er zum Offizier ausersehen ist. Der Himmel weiß, was für einen Kettenhund wir dann in die Finger fallen. Das schöne Wetter ist alle, und die Heide ist grau in grau und hat alle Farbe verloren, im Hinblick auf Birkelbachs Weggang unsere Stimmung auch. Hamburg war ein Lichtblick und ich hatte im Augenblick alle Lebensgeister zurück. Als wir auf dem Hauptbahnhof ankamen (es war Sonntag) habe ich mich wie ein Kind gefreut (,) mal wieder elegant angezogene Menschen zu sehen. Ich hätte nie geglaubt, daß das einen solchen Eindruck auf mich machen könnte, aber hier sehen alle Menschen grau aus. Ich war wie elektrisiert. Wir hatten uns fürs Kino entschlossen, da es zusammen 16 Mann waren, die zum größten Teil für Oper oder Theater nicht in Frage kamen. Jud Süß hat einen sehr nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht. Es ging mir wie einem Landkind, das zum ersten Mal gute Kunst sieht. Ich war sehr aufgeschlossen nach der Eintönigkeit hier, die doch langsam drückt. Nach dem Film kam der übliche Alarm, der aber nur 1 ½ Stunde dauerte, wir haben also noch ganz anständig

geschlafen und zwar (beileibe nicht im Atlantic) in einer Soldatenunterkunft auf dem schon gewohnten Strohsack. Am Montag ging es in die Klinik, wo wir leider bis fast 13:00 Uhr festgehalten wurden von 13 bis 17:00 Uhr wo unser Zug ging, haben wir dann noch eine Hafenrundfahrt von anderthalb Stunden gemacht, den Elbtunnel besichtigt, in dem St. Pauli Landebrückenrestaurant zu Mittag gegessen, über die Reeperbahn zum Bismarckdenkmal (unleserlich) und am Bahnhof noch eine Tasse Kaffee getrunken, dabei lag die Klinik in Barenbeck (?) f.w.o.(?). Ich habe den Führer gemacht so zielsicher, als ob ich Hamburg wie meine Westentasche kennt. Es war famos. Am Hafen sahen wir U-Boote und einen großen 15.000 t Frachter, dem durch eine Miene (!) das ganze Vorderschiff weggerissen war. Er hatte Erz geladen und war trotzdem nach Hause gekommen. Wir sind mit unserer Barkasse in das Schiff hinein gefahren, so groß war das Loch.

Ich nehme meinen Dienst hier sehr ernst, denn ich will im Gedenken an Vater ein brauchbarer Soldat werden. Das wird auch anerkannt, denn als Birkelbach gestern und heute zur Ordnung privater Angelegenheiten vor der Kriegsschule Urlaub hatte und kein Unteroffizier zur Stelle war, hat mir der Feldwebel die Führung der Korporalschaft übertragen. Das ist doch allerhand für einen Rekruten von noch nicht fünf Wochen Ausbildungszeit. Meine Schießergebnisse sind auch tadellos. Ich hoffte schon, mir einen Samstag-Sonntag -Urlaub nach Hannover zu Karl- Otto herausgeschossen zu haben, aber der Lagerkommandant hat alle Urlaube über 50 km Entfernung abgelehnt. Der Kompanieführer, ein Oberleutnant hat mich kommen lassen und hat mir gesagt, daß er mir den Urlaub herzlich gegönnt hätte, daß er ihn aber unter diesen Umständen nicht geben dürfe. Ich sollte es nächsten Sonntag nochmal versuchen. Also hoffen wir das Beste! Mit Urlaub ist man

hier überhaupt sehr sparsam. Die Wuppertaler Angelegenheit ist meine letzte Hoffnung für Heimaturlaub. Es müsste so gemacht werden, dass ich Sonntag, den 17. November kommen könnte. Zu diesem Zweck müßte Engels einen Brandbrief schreiben. Es steht ja auch für ihn sehr viel auf dem Spiel. Ich habe den Eindruck, als ob [Rechtsanwalt] Wiel sich hätte einwickeln lassen. Ein Preis von1,-Mk ist ja lächerlich. Vielleicht kann Engels feststellen, was sein Vater oder Großvater bezahlt hat. Ich werde auch an Wiel schreiben, dass er mich anfordert.

Das Vaters Bild so schön geworden ist, freut mich herzlich. Schreibt mir doch mal, wie es dem kl. Urselchen mit dem Ausschlag geht. Was macht mein süßer Jürgenjung. Was macht das Heidikind und mein Helgamäuschen? Schreibt sie dem Papi mal eine Karte oder gar einen Brief. Ist der Läusert [=Klaus] noch so frech? Er könnte hier auf dem Kasernenhof noch ein paar handfeste Ausdrücke lernen. Was machen die Omis? Ich schicke Dir einliegend einige Briefe zurück, da ich sie hier nicht aufheben kann. Nächste Tage folgt ein Wäschepaket. Da müsst ihr mal ein Meisterstück machen, denn es muss sofort wieder an mich zurückgehen. Ihr müsst die Sachen nachts am Ofen trocknen und morgens zu drei Mann bügeln. Ich brauche die Sachen dringendst wieder. -

Über deine Briefe freue ich mich immer sehr. Es ist doch eine verteufelt lange Zeit, die man weg ist und Du kannst so schön erzählen. Es ist mir oft, als säße ich bei Dir, wenn ich Deine Briefe lese.

Sei herzlichst gegrüßt und geküsst von deinem ollen
Harald,

     der nicht schreibfaul sondern nur abgehetzt und müde ist.

Kommentar Stefanie Endemann: Vater Gustav Endemann hatte als Studienrat privat unter Schülern eine Wehrsporttruppe organisiert - mit Holzbewaffnung - und saß dem lokalen Flottenverein vor.