Harald Endemann an seine Frau Charlotte, 7. Dezember 1940
Amsterdam, den 7.12.40
Mein süßes Frauchen,
heute bin ich ein ganz anderer Kerl. Man hat uns für 3 Stunden in die Stadt gelassen. Der erste genauere Eindruck von Amsterdam. Es ist eine seltsam schöne Stadt. Die Häuser sind fast alle aus dunklem Backstein gebaut und sähen düster aus, wenn nicht alle Fenster, Gesimse und Türen in hellen meist gelblichen Farben gestrichen wären. Dazu kommen die blendend weißen Gardinen und die Belebung durch das Wasser. Ganz Amsterdam ist spinnennetzartig dicht mit Graachten durchzogen, auf denen viele Kähne liegen und fahren, die mit ihren farbigen Aufbauten und Frachten das Bild beleben. Viele alte Graachten sind mit Bäumen meist Ulmen bestanden. Eine Unzahl von Brücken schwingen sich von Ufer zu Ufer oder sind als Ziehbrücken grün oder orange gestrichen – reizvoller Blickpunkte, gotische und barocke Kirchen mit Glockenspielen und zahlreiche patinierte Kuppeln ragen über das Häusermeer. Ich war auch auf der Heerengraacht, wo ich laut Förderkursen einige zweifelhafte Häuser mein eigen nannte ich fand eine recht elegante Kaufmannsstraße mit Konto und Lagerhäusern. Man sieht hier hier und da Neger und Inder auch Japaner und Chinesen, die sich mit Bauchläden Mühe geben, billigen Schund zu verkaufen. Die Straßenbahn ist für uns frei, so das wenigstens geldlich keine Schwierigkeiten bestehen, auch weitere Entfernungen zurückzulegen. Von Pützens habe ich noch nichts gehört, müsste auch erst die neue Wohnung abwarten, um sie besuchen zu können. Für Mittwoch Abend habe ich eine Freikarte für ein Konzert des Kammerorchesters der berliner Philharmoniker ergattert. Du siehst, dass sich mein Dasein erheblich aufhellt. Hoffentlich
kann ich hier recht viel genießen, ehe ich nach j.w.d versetzt werde. Mit dem Weihnachtsurlaub machte man uns hier recht bange. Ich werde aber auf jeden Fall Urlaub durchsetzen. Wenn nicht zu Weihnachten, dann eben vorher Sonderurlaub. Sorge nur, dass alle Anforderungsbriefe bald abgehen. Das Erneuerungs-formular für das Scheckheft Holbach schicken mir bitte zu, ich unterschreibe es dann, und die Bank kann das neue Scheckheft dann Dir zuschicken.
Liebes Lottenkind, ich habe Deine lange Epistel gestern im Bett nochmals ganz langsam und genau durchgelesen und genossen. Es ist entzückend wie Du im behaglichen Plauderton erzählen kannst. Ich habe richtig den warmen Ofen gespürt, so plastisch stand alles vor mir. Ach hätte ich doch mal eine stille warme Ofenecke, um Dir einen ebenso schönen Brief schreiben zu können. Unser Eingesperrtsein war scheußlich. Ich hatte einen richtigen Kasernenkoller. In Reinsehlen hatte ich wenigstens den freien Blick auf Heide und Wald, hier nur auf Kasernenmauern. Auf unserer großen Bude bleiben einem die Kameraden fremd und sie sind meistens nicht von derart (!), dass ich mich zu ihnen hingezogen fühlte. Im Gegenteil! Deshalb bin ich überglücklich, dass das Gefängnis sich jetzt geöffnet hat. Hoffentlich bleibt es so, dann will ich gerne zufrieden sein.
Meine Lottenmaus, ich bin auch heute noch froh, dass der Krieg mich nicht verschont hat, obwohl das, was ich zu seinem Gelingen beitragen kann, beschämend klein ist. Es ist aber doch ein Opfer was ich bringen kann und das Opfer besteht ganz allein darin, dass ich von Dir getrennt bin. Leider wird von Dir auch dies Opfer verlangt. Lotti, Du glaubst es nicht, wie mich die Entfernung an Dich bindet. Ich bin traurig und glücklich in einem Gedanken. Glücklich, dass ich Dich habe und traurig, dass ich Dich nicht habe. Ach könntest Du doch mal eine Woche hier sein, wie wäre das herrlich. Keine Kasernenmauer wäre zu hoch, um zu Dir auszureißen. Ich habe meine Kinder schrecklich
lieb, aber Du bist alles in einem. Zu Dir gehöre ich in Leben und Tod. Das ist die erste Gewissheit, die dieser Krieg unumstößlich in mir gefestigt hat. Die zweite ist die, dass ich mit meiner Zeit nicht gewirtschaftet habe. Zeit ist so kostbar. Meine freien Stunden von heute sind die, in denen ich am intensivsten angespannt bin. Eine einzige Stunde mit Dir wäre die größte Kostbarkeit heute für mich – und was habe ich früher damit angefangen? Es kommt eine richtige Hast über mich, wenn ich an alles denke, was versäumt wurde; an Dir, an der Arbeit und am wahren Genuss des Lebens.
Ich umarme Dich in herzlicher Liebe, mein süßes, kleines Frauchen
Dein Soldat
Der Brief nach hierher war nur 2 Tage unterwegs