Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 26. Juni 1944
Den 26.6.44
Liebster Mann,
ich hatte gestern abend den Brief feldpostfertig gemacht, aber weil heute morgen endlich von Dir Post kam, in der Du u.a. schreibst, ich solle den Brief an die Rotenburger Adresse schicken, bekommst Du sofort einen Brief dabei. Ich habe mich nach Tisch auf den Balkon gesetzt und schreibe dies schmorend in der Sonne. Meine Töchter machen derweil die Küche. Herrliche Wolkenhaufen sind am Himmel, aber leider fällt das Barometer. Weißt Du, wonach ich vorhin Sehnsucht bekam? Über den sonnigen Jeverer Marktplatz zu gehen zu Erb oder zum Oldenburger Hof, und dann nach Tisch, mit „Petolls Kraftverkehr“ zum Horst zu fahren. Ich spürte förmlich die Jeverer Luft und hatte eine ganz deutliche und plastische Vorstellung von allem.
Ich weiß ja, dass wir den Urlaubstraum wohl auf lange Zeit begraben müssen, aber schmerzlich ist es. Wirklich wunschlos aber wird man, wenn man in der Sonne sitzt und spürt mit geschlossenen Augen die Wärme und den leisen Wind. Dann ist man für Minuten völlig eins mit sich. Wenn einem dieses Geschenk nur öfter beschert würde. Aber das ist dieses Jahr Mangelware wie alles andere auch. Aber meinst Du nicht, dass mindestens nächstes Jahr der Krieg aus ist? Damit unser Leben wieder anfangen kann?
Hübsch, dass Du den Ausflug zu Dr. Rotemund machen konntest. – Frau Foegen hat den Mut aufgebracht und ist für acht Tage nach Goslar gereist. Wüßte ich, Du bliebest dort, ich täte es auch. Länger ginge ja nicht, und sogar dies wäre ein Wagnis, wegen einer evtl. zweiten Landung. Denn die wäre bestimmt näher an Deutschland herangeschoben.
Von Schultzens ist immer noch keine Nachricht da, trotzdem der Angriff heute acht Tage her ist. Wir haben schon angefragt. –
Mittlerweile ist es Abend geworden. Unser Sohn Jürgen und Ursel waren mit Manfred trotz Verbot am Rhein und Jürgen ist natürlich ins Wasser gefallen. Ein Soldat hat ihn rausgeholt. Du hättest die Kavalkade ankommen sehen. Sämtliche Kinder der Umgegend eskortierten ihn, der naß wie eine Katze daherschlich, denn das Gerücht war schneller hier als Jürgen. Er selber heulte vor Wut über das Aufsehen, das er erregte und murmelte Sprüche gegen seine johlenden Begleiter daher. Ich habe ihn und Ursel gründlich mit dem Stock verdroschen. Du musst aber nicht denken, dass er irgendwie fassungslos über das Unglück war. Er hat auch nicht geheult, als er ins Wasser gefallen war. „Ich wusste ja, dass mich der Soldat rausholt und gesterbt wäre ich noch lange nicht.“ Und dann aß er vier Butterbrote, eine heiße Tasse Milch und einen Teller Kirschen.
Helga hat in der Aufregung Manfred fast das Nasenbein eingehauen. Ursel fand sie eine Stunde nicht, bis ich sie zuletzt in der Ecke unter Heidis Bett, angeklammert an die Sprungfedern und fest an die Wand gedrückt, entdeckte. „Weils Du mich ja auch haust“ sagte sie ahnungsvoll. Und das geschah dann auch.
Unser Essen wird wenig abwechslungsreich. Obst und Gemüse ist kaum zu bekommen. Im Monat ein halbes Pfund Obst auf die Person, was ist das schon? Es scheint aber auch eine Missernte dazu zu sein. In allen Familien gibt es, d.h. soweit Kartoffeln da sind, diese mit Senfsoße, mit weißer Sauce, als Suppe, als Bechamel usw. Alles ohne Gemüse oder Salat.
Weißt Du, wie es aussah, als Jürgen vor der Horde ihn auslachender Kinder stand? Akkurat wie das Teufelchen auf dem Högefeldtbild, blos, dass er was anhatte, aber dieselbe Schüppe und dieselbe Faust.
Gute Nacht, liebster Mann. Wann werden wir uns wiedersehen?
Deine Lotti