Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 5. September 1944
den 5.9.44
Mein lieber Mann!
Immer noch liegt der Brief vor mir, und ich kann es nicht fassen, dass Du so einen idyllischen Brief schreiben konntest. Hier gibt es nur noch ein Thema: Fliehen in der nächsten Zeit oder nicht? Einer fragt den anderen um Rat und sucht sozusagen beim anderen Schutz. Sogar die Kinder diskutieren unter sich das Thema, ob weg oder nicht. Auf den Landstraßen bricht der Strom der aus dem Feld kommenden Fahrzeuge nicht ab, eine endlose Kolonne, die rheinauf, rheinab zu ihren Sammelplätzen fahren. Und alle kommen von der Front. Was soll das werden?
Es liegt auch irgendwie in der Luft, dass unser Leben hier sich in der nächsten Zeit von Grund auf ändern wird. Es ist eine mit Spannung geladene Luft wie in den ersten Kriegstagen. Man kann schon sagen, dass hier Etappe ist. Klaus hat mich heute sehr in Angst gejagt. Er war weg von zwei bis neun, und was tat er? Er hat biwakierenden Soldaten Gepäckstücke geschleppt und darüber die Zeit vergessen.
Sollte eine Zwangsräumung erfolgen, können wir nach Finsterwalde? Die Flüchtlingskolonnen von der Grenze bleiben hier auch nicht, sondern legen nur einige Tage Ruhepause ein und kommen dann nach Thüringen. Es ist hier so, als ob jeder seine Arbeit nur noch im Unterbewusstsein tut. Alle Gedanken sind bei den Nachrichten von der Front. Seit drei Tagen fühlt man sich irgendwie im Frontbereich.
Ich habe Dir geschrieben, dass das Paket angekommen ist mit einer reizenden kleinen Holzstadt mit allem, was dazugehört, Autos, Brücken, Wegweiser Kutschen, Tiere usw.
den 6.9.44
Der Luftlagebericht meldet: Über dem Reichsgebiet kein Kampfverband. Trotzdem haben wir Alarm wie jetzt überhaupt in kurzen Abständen den ganzen Tag. Und der Drahtfunk meldet dann immer im Raum Aachen-Köln kreisende Tiefflieger.
Soeben kreiste Richtung Bonn einer und schoss mit Bordwaffen. Der Drahtfunk meldet soeben Tieffliegerbeschuss im Baum Bonn-Siegburg. Und unsere Omi sitzt in der Siegburger Elektrischen. Abgeraten habe ich ihr ja genug. Es wird hier in dieser Beziehung langsam wie in Frankreich. Der Wehrmachtbericht spricht von Loewen.
Auf der Straße erzählen sich zwei, ich höre es aus dem Schlafzimmerfenster, sie seien schon in Holland. Heute morgen sind u.a. zum Schippen weg: Die beiden Schreiner Rademacher, unser Kehrmännchen, Herr Arndt, Gärtner Monschau, Spinat usw. Der Drahtfunk
meldet: Zwischen Köln und Aachen noch immer starke Tätigkeit feindlicher Jäger.
Wir können in diesen Tagen keinen anderen Gedanken fassen als an das Kommende. Es geht jedem so. Ich kann den Kindern doch nicht klarmachen, dass Voralarm jetzt gefährlicher ist als früher Vollalarm. Bei Jagdverbänden und Tieffliegern wird nur nicht Voralarm gegeben, so häufig sind sie.
Wenn man es bedenkt, so sind wir hier, zumindest in einigen Tagen, aber vielleicht auch heute schon, näher an der Front wie Du seinerzeit in Le Mans. Witzige Blüten treibt dieser Krieg.
Eben kommt ein Trüppchen Hitlerjungen, Kleine, bauen sich an der Straßenecke auf und brüllen: 'Jahrgang 30 und 31 (die Dreizehnjährigen) zum Schanzen an den Westwall vor. Meldung Schultheißgasse 10.' Und das ist kein Kinderspiel, denn dort (am Westwall) sind naturgemäß dauernd Tiefangriffe. Helga ist Jahrgang 33. Aber Dirk Stein gehört dazu.
Der Herbst kommt. Es regnet sich ein, und alle Kinder verlangen Wollkleider, weil sie frieren. Ein bisschen schnell kommt der Herbst dieses Jahr. Ich war vorhin bei Strengers. Frau Strenger schenkte mir zwei frische Eier, die ich den Kindern zum Abendessen aufs Brot gebe.
Vor mir steht das Bild von Dir und Deinen Kameraden aus dem Strandbad in Dortmund. Auch das ist lange her, finde ich