Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 16. September 1944

den 16.9.44

Mein lieber Mann!

Drüben liegen die Kinder frischgebadet in den Betten, und Helga liest ihnen eine Geschichte vor. Eigentlich müssten sie jetzt schlafen, aber ich lasse ihnen eine Weile noch die Freude. Ich bin gegen vieles überhaupt nachgiebiger geworden, weil ich mir sage, welche Freude ich ihnen noch machen kann, sollen sie haben.

Wenn Du in Deinem heutigen Brief schreibst: Ich glaube übrigens, dass sich die Lage an der Grenze doch stabilisieren wird, so muss ich sagen, das kann man nur von Finsterwalde aus schreiben. Der 'Westdeutsche' spricht heute ganz klar aus, dass die linke Rheinseite Kampfgebiet wird und dass außerdem noch weite Teile des Reiches aufgegeben werden müssten, ehe die Niederlage von Frankreich ausgebügelt werden kann und die Truppen eine gewisse Festigung in die Sache bringen könnten.

So der 'Westdeutsche'! Außerdem betont er immer wieder, dass der Feind Truppenmas-sierungen und Material allergrößten Ausmaßes an der Grenze, besonders Aachen, zusammengezogen habe, damit er in einem gewaltigen Stoß die Sache einrennen kann. Und der Wehrmachtbericht berichtet von mit stärksten Materialkräften unterstützten Durchbruchversuchen bei Stolberg nach Nordosten.

Seit gestern hören wir das Schießen von der Front, und wir sind mittlerweile doll und dämlich und schließlich gleichgültig geworden in der unfruchtbaren Überlegung, was wir tun sollen und was wir eventuell mitnehmen sollen. Es ist so schwer, alles aufgeben zu müssen.

In den Pädahäusern waren bis heute mittag Aachener untergebracht, die drei Tage mit ihren Sachen zu Fuß gelaufen sind. Wie sie weg waren, kamen die Leute aus den Kreisen Schleiden und Mayen und von der Mosel. Godesberg bekommt heute noch einige Tausend Flüchtlinge zum Übernachten. Allein bei Überhorst wohnen 22 Flüchtlinge.

Pädahäuser und Schulen sind laufend besetzt. Die Godesberger fangen auch schon an und machen sich auf den Weg. Trotzdem hoffen wir, dass die Welle an uns vorübergeht. Aber das weiß man nicht. Ich weiß wirklich nicht, zu wem ich soll, und in eine fremde Familie gehe ich mit fünf Kindern nicht. Stell Dir bloß die Unzuträglichkeiten vor, die sich daraus ergeben.

Was mir Sorge macht, ist die geldliche Seite der Sache, falls es wirklich zur Besetzung kommt. Wovon soll ich dann mit den Kindern leben? Die paar hundert Mark auf der Sparkasse bringen mich nicht weiter, und Familienunterhalt wird es sicher nicht mehr geben, höchstens Wohlfahrtunterstützung.

An das donnernde Rollen der VI zu unseren Häupten haben wir uns schon gewöhnt, nach dem der erste Schreck vorüber

war. Aber es war wirklich ein toller Krach, mit dem sie ihre Bahn dahinzieht zu den verschiedensten Stunden des Tages. Wir fürchten bloß die Kehrseite der Medaille, denn auf den Pas de Calais sind damals laut Zeitung ungefähr 50.000 Tonnen Bomben gefallen. Na ja, das muss die Zeit lehren.

Wenn wir wegmüssten, müsste ich so vieles dalassen, an dem ich hänge, die schönsten Bücher, die Kiste mit den Fotografien, Deine Briefe und vieles mehr. Ich könnte noch nicht einmal Tisch- und Bettwäsche mitnehmen, denn wenn ich mich mit der Leibwäsche für mich und die Kinder belaste und den Kleidern, dazu dem Koffer mit den notwendigsten Utensilien und Papier und dem Koffer für das Essen für alle, habe ich genug zu schleppen. Wenn auch die Großen ein Säckchen auf den Rücken bekämen, so könnte ich es doch nicht allzu voll belasten in Anbetracht eventueller weiter Wege. Und Lisbeth würde in dem Falle selbstverständlich zu ihren Eltern zurückkehren, und die Omi kann nichts schleppen. So sind beinahe noch Bombengeschädigte besser dran, denen in einer Nacht alles wegbrennt, sodass sie nicht überlegen brauchen, was sie alles zurücklassen müssen. Ich merke doch jetzt, wie es einem nach kurzer Zeit rundum im Kopf geht, wenn man nur zu überlegen anfängt, was vielleicht noch mitgenommen werden könnte, wenn man dann abwägt.

Und wenn wir hierbleiben? Der 'Westdeutsche' malt uns genügend Schreckensbilder, die uns erwarten, wenn wir dem Feind hier ausgeliefert sind. Andererseits fordert er schon mit deutlichen Worten die Zivilbevölkerung zum Kampf auf. Der Regierungspräsident erlässt einen Aufruf zum Kriegseinsatz der männlichen Jugend, Jahrgänge 26 bis 30, die nicht als Luftwaffenhelfer, R.A.D. und Westwallbau eingesetzt sind.

Es ist so traurig, dass ich gar nicht von dem Thema Krieg loskomme, aber es gibt überhaupt in keiner Weise mehr die geringste Abweichung davon. Mit wem man auch zusammentrifft, es wird von nichts anderem mehr gesprochen. Die Wolke ist zu nahe.

Mitten in den Sorgen bleibe ich aber doch Deine Lotti. Ich werde auch gefasst alles hinnehmen, was kommt, das musst Du wissen, falls meine Briefe klingen sollten, als klagte ich. Es liegt mir nur nicht, irgendwelche heroische Worte zu machen. Es stehen mir zu viele davon schon in der Zeitung, und dabei ist die Wirklichkeit doch ganz anders. Dass mein persönliches Schicksal gleichgültig ist, wenn es dem allgemeinen Besten dient, weiß ich, bloß der Fragen sind so viele, die sich auftun und der schwülstigen Worte noch viel mehr.

In Parenthese: Herr Strenger ist heute zu seinem Truppenteil oder vielmehr Ersatzbataillon nach Königsberg abgefahren, trotzdem er noch Nachurlaub bis zum 24. bekommen hatte. Aber er hatte sich in Köln bei der Frontleitstelle erkundigt, und die hatte ihm gesagt, dass in Kürze die linke Rheinseite wohl zur Ein-und Ausreise gesperrt würde und dass er dann im Westen eingesetzt würde. Er hat aber keine Lust, „für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen“. Der Mensch hat doch eine Angst vor der persönlichen Berührung mit dem Kriege. Warum und wieso er mit dem winzigen Schuss noch Nachurlaub bekommen hatte, ist mir auch schleierhaft. Frau und Kinder lässt er gerne hier, wenn er nur sein kostbares Leben in Sicherheit bringt. Frau Strenger hat sich aber auch ziemlich deutlich über seinen Mut ausgedrückt und meint, sie stände die Zeit besser ohne ihn durch.

Ich habe Dich sehr lieb. Ich muß es Dir noch rasch jedes Mal versichern.

Deine Lotti.