Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 30. September 1944
den 30.9.44
Mein lieber, lieber Mann!
Es ist Samstagabend, alle Arbeit ist getan, und ich sitze allein hier oben im Zimmer. Die Mu tut noch den Apfelkuchen für morgen in den Ofen. Das Schreibtischlämpchen brennt, das Zimmer ist warm, auf dem kleinen Tisch stehen bunte Astern, daneben ein neues Buch aus der Bücherei, alle Vorbedingungen zur Gemütlichkeit sind also geschaffen, wenn... ja wenn nicht seit einer Stunde wieder von der Front her das ununterbrochene Rollen der Kanonen dränge, das deutlich hier ins Zimmer dringt und die ganze Gemütlichkeit illusorisch macht.
Und wir werden auch nach dem Aufatmen der letzten Tage wieder unruhiger, als künde sich wieder was an. Dazu passt, was die 'Kölnische' heute schreibt: „Man darf sich jedoch nicht darüber täuschen, dass der Feind seinen Angriff gegen die deutsche Westgrenze mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln fortsetzen wird. Die im Abschnitt von Aachen an der Eifelfront sowie zwischen Metz und Diedenhofen sich immer mehr verstärkende Artillerietätigkeit kündet zusammen mit den starken Luftangriffen der letzten Tage gegen Städte und Verkehrsanlagen am Rhein neue Kämpfe an.“ Köln hat ja einen furchtbaren Angriff hinter sich, und zwar sind diesmal nur Sprengbomben, die große Trichter auf der Ringstraße und in alle Stadtteile rissen, gefallen.
Ich kann Dir unter dem seelischen Druck keinen gemütlichen Brief schreiben. Verstehe nicht darunter, dass ich Angst habe, aber das Blut und die Tränen auf dieser Welt sind fast bis an den Himmel gestiegen, und ich habe das Gefühl, als ob ein Zaun in mir zusammengebrochen ist und das ganze Elend auf mir lastet. Ich bin unablässig tätig von morgens bis abends, nehme mir immer andere Arbeiten vor (was dem Haushalt ja entschieden nutzt), bloß um diesen Druck nicht zu spüren, der mir die Freude an allem Behaglichen, was ich noch habe, nimmt und mich auch nicht mehr zum Lesen, nur noch zum Durchblättern von Büchern kommen lässt. Es gibt für mich nur noch einen ruhenden Pol und das bist Du. Abends denke ich ganz intensiv, Du liegst neben mir und dann sage ich mir wie in Asseln, jetzt gibt es kein gestern und kein morgen, jetzt spüre ich nur, dass ich bei Dir bin. Und diese Einbildung, Du bist bei mir, trägst meine Sorgen und schützt mich, wenn es nötig ist, ist schön. Aber – es ist eben nur Einbildung, denn in Wirklichkeit sitzt Du in diesem schönen Finkenwalde und hörst nur durch den Wehrmachtbericht eine kurze Skizzierung der Lage.
Was Du für mich wärest, bin ich wiederum für die Kinder. Wenn es so schießt (und dieses ferne Artilleriegrollen ist unheimlich, denn da kommt etwas Unbekanntes) kuscheln sich die Kinder ganz nahe an mich und sind dann getröstet und meinen, ihnen könne nichts passieren, solange sie bei mir sitzen können.
Es scheint mir doch, als habest Du allerhand Briefe von mir nicht bekommen. Erstens habe ich das Paket sofort abgesandt und mit 500.- Mk. Wert angegeben. Aber bei den vielen Terrorangriffen von Köln bis Hamm und den vielen Beschießungen kommt es vielleicht nicht durch. Zweitens habe ich Dir geschrieben, dass Spinat, allerdings nicht für
alle Möbel, 600.-Mk. gezahlt hat. Ich finde es aber trotzdem wenig, kann aber vorläufig nichts machen, weil er am Westwall schippt und der Sohn angeblich nicht Bescheid weiß.
Was Dir Freude machen wird, ist, dass Mariechen Pöll uns die letzte Zeit gut mit Obst versorgt hat. Ich nehme an, weil sie alles treu heranschleppt, sie nimmt eine Spanne Verdienst dafür, denn was sollte sie sonst für einen Grund haben, mir aus dem Ländchen allerlei heranzuschleppen. Aber ich zahle das gern und gebe ihr immer für die Sparbücher der Kinder etwas, habe ich doch auf diese Weise immer Äpfel und Zwiebeln und Gemüse im Haus. Wir essen jetzt sehr viel rohes Obst, was wir ja den ganzen Sommer entbehren mussten, und können vielseitige Abendessen gestalten.
Heute war ich in Bonn. Ich wurde zum Finanzamt bestellt wegen des Antrags für Erziehungsbeihilfe, und was war's? Ich hatte auf dem Formular das 'geschieden' bei den Fragen nicht dick genug durchstrichen. Das habe ich dann gründlich nachgeholt und bin dann in die Stadt zu Einkäufen gezogen, natürlich war das völlig sinnlos, aber um nicht ganz leer nach Hause zu kommen, habe ich im Kaufhof einen Holzpanzer, ein schäbiges Ding zwar, für Jürgen erstanden. Aber ihm hat es mächtige Freude gemacht. Ich wollte es ja erst für Weihnachten verwahren, aber dann dachte ich, ich geb's ihm lieber jetzt.
Vorhin stand er in der Küche und vertilgte zwei Pfirsiche. Als er sie im Magen hatte, wollte er sofort trinken. Ich wehrte entsetzt ab und erzählte ihm, wie gefährlich das sei und dass er da-nach sterben müsse, worauf er meinte: "Probiers doch mal bei mir". Aber ich sagte ihm dann, dass er mir als Versuchskarnickel zu schade sei.
Kläuschen ist gemütvoller. Als Omi Hechtle gestern Äpfel schälte und dabei Jagd auf ein paar Ameisen mit dem Küchenmesser machte, nahm er unbemerkt, wie er meinte, die noch Lebenden in seine Hand und trug sie in den Hof.
Jetzt machen wir aus Omi Endemanns Mantel einen Wintermantel für Heidi, die keinen mehr hatte, und aus ihrem Rock ein Kleid für sie, denn ich kann ihr keine kaufen. Für Helga hatte ich noch das Kleid in Bonn erwischt.
Die Kinder sind nach dem Baden selig in der Vorfreude auf zwei Platten Apfelkuchen eingeschlafen. Ich ließ es nicht bei einer, denn sie sollen sich ordentlich sattessen, und trotz allem will ich den Sonntagen im sechsten Kriegsjahr so viel Glanz geben, wie es geht. Dann will ich hinterher mit allen Fünfen durch die Deichmannsaue spazieren gehen (so es die Tiefflieger zulassen, aber das bezweifele ich noch, wenn es nicht sehr regnet und dann können wir wiederum nicht gehen.)
Vetter Hans schrieb aus Hamm. Dort ist er bei der Artillerie gelandet. Bisher war er bei der Flak in Belgien. Nun trägt er statt Luftwaffenrock den Wehrmachtsrock. Er hat schon drei Terrorangriffe in den acht Tagen mitgemacht, die ihm, wie er schreibt, etwas ganz Neues sind, weil es die in dieser Art in Frankreich und Belgien nicht gegeben hat.
Viele liebe Gutenachtküsse
Deine Lotti