Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 5. Oktober 1944
den 5.10.44
Mein lieber Mann!
Es scheint mir, als ob Deine Briefe schneller laufen als meine, denn die heutigen sind vom 1. und 2.10. Ich verstehe nicht, dass Du wieder so lange keine Post von mir bekommen hast. Es müssen wohl Briefe verloren gehen. Ich schreibe deshalb diesen Brief, wie Du es wolltest, an beide Adressen.
Jetzt kommt die Front anscheinend wieder ins Rollen. Was sollen wir tun? Ich bin so intensiv im Haushalt beschäftigt und mit einer Freude daran wie schon lange nicht mehr, so, als gäbe es gar keinen schwankenden Grund. Vielleicht ist das seelische Selbsthilfe. Heute war das arme Köln wieder dran. Der Fla funk (Drahtfunk funktioniert seit dem vorgestrigen Terrorangriff nicht mehr) meldete: Sehr starke Kampfverbandtätigkeit über Köln.
Gestern sind nun endgültig auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars mit sofortiger Wirkung alle Schulen im linksrheinischen Gaugebiet, vorerst bis zum 1. November geschlossen worden. Die Kinder wachsen wirklich auf wie die jungen Neger. Ulla hat in den fünf Wochen ihres Schulbesuchs glücklich i und u gelernt, soviel Stunden hatte sie. Nun habe ich angeordnet als Kommissar für das Hauswesen, daß jeden Morgen von mir aufgegebene Schulaufgaben gemacht werden. Sie machen mir sonst zu viel Unsinn, die Trabanten. Was das aber für einen Kampf mit Ulla gekostet hat, ist nicht zu beschreiben.
Heidi setzte damals der Schule einen passiven Widerstand entgegen, Ulla geht im Angriff vor gegen alles, was mit der Schule zu tun hat. Klaus fügt sich widerspruchlos, hat aber nach zwei Stunden noch keine zwei Reihen geschrieben, weil er nach jedem halben Wort den Daumen in den Mund steckt und vor sich hin brütet.
Ich kann mich nicht entschließen, die Kleinen zu Lenchen zu tun. Wie soll Lenchen bloß allein mit den zwei in Freiheit dressierten Gören fertig werden? Stell Dir also bloß das brave Sibyllchen vor und dann unsere Ursel.
Dann möchte ich sie lieber zu Schultzens tun, denn so oft wird Stettin ja wohl keine Terrorangriffe mehr bekommen, und sie wohnen ja auch weit draußen. Hinbringen könnte ich sie aber nicht, denn ich kann ja von den anderen Kindern nicht fort.
Aber davor, die Kinder zu Lenchen zu bringen, grault mir mehr als vor den fortgesetzten Alarmen. Denk doch bloß dran, wie pingelig sie ist und wie wenig großzügig, was Kinder angeht. Die Spannung wäre auf ewig da. Thea ist meine Schwester, mit der könnte ich reden.
Außerdem haben uns Schultzens im letzten Brief Quartier für alle angeboten, während Lenchen schrieb: „Wenn Du keinem anderen Platz weißt, komme zu uns, es muss dann gehen, daß irgendwie Platz geschafft wird.“ Hansi geht nächste Woche auch zu Thea, und dann wären zwei Frauen und ein reizender und sehr kinderlieber Onkel da.
Aber nun die andere Seite: Im Moment, wo mir die zwei Kinder wegfahren, sind Lisbeth und ich reif für die Rüstung. Und das geht hier schnell.
Und wenn ich z.B. in die Ringsdorffwerke oder sonst wohin käme, und es würde hier brenzlig, könnte ich mit den drei Großen auch nicht weg, sondern müsste die Omi mit ihnen fahren lassen, und ich selber müsste im Betrieb bleiben. So wird es nämlich Ilse Düren gehen. Sollte evakuiert werden, müsste der Junge mit der Oma weg und sie mit den Ringsdorffwerken. Keine berufstätige Frau darf dann auf eigene Faust weg, sondern jede muss, wie der Soldat, ohne Rücksicht auf die Familie an ihrer Stelle bleiben.
Die sämtlichen Päda-Dienstmädchen sind am Tage, wo die Jungens wegfuhren, geschlossen von den Ringsdorffwerken geschluckt worden, ebenso die Oberklasse der Mädchenschule.
Nun, nach der offiziellen Schließung werden die Hausdamen auch dran glauben müssen, denn in der Bekanntmachung stand, dass alle Lehrkräfte sich sofort zum Arbeitseinsatz zur Verfügung zu stellen hätten. Und da nach der neuesten Zeitungsnotiz auch Mütter mit mehreren Kindern (über drei stand da), sobald das Jüngste über zwei Jahre ist und noch eine erwachsene Person zwischen l8 und 70 Jahren im gemeinsamen Haushalt lebt, sich zur Arbeit melden müssen, so werde ich nach der Abreise der beiden Kleinen geholt, denn dann habe ich drei Kinder über sechs und eine Omi von nicht siebzig.
Es schreckt mich dabei auch nur das Gefesseltsein an einen Platz und u.U. dableiben zu müssen, während die Familie fortgeht. Dann kriegst Du uns ja wohl nie wieder zusammen.
Wäre es Dir aber möglich zu kommen, um Sachen wegzuschaffen und um eventuell doch die beiden Kleinen mitzunehmen, wenn Du es für richtig hältst, wäre es mir ein Geschenk des Himmels. Ich glaube, evakuiert wird im Rheinland nicht mehr. Grohe hat es selber in seiner Rede gesagt. Schließlich wissen sie ja auch nicht wohin mit den Leuten. Wenn aber nicht evakuiert wird, könnte ich mich jetzt auch nicht in irgendein Heim verschicken lassen, ich müsste höchstens sehen, dass ich auf eigene Faust zu Verwandten käme.
Dafür macht uns der 'Westdeutsche Beobachter' auf täglich drei Seiten graulich vor der Schreckensherrschaft, die mit den Amerikanern hereinbrechen würde, falls es ihnen gelingen sollte, weiter im Rheinland Fuß zu fassen. Und wenn es so kommt? Wie gesagt, evakuiert wird nicht mehr.
Ich habe das Zimmer geheizt, denn es sind seit Tagen nur sechs Grad. Wir hatten noch etwas Kohlen vom vorigen Jahr. Aber in den meisten Häusern sitzen die Leute im Kalten, weil ihnen bis jetzt nur die Hälfte Brand geliefert wird und keiner glaubt, dass es mehr wird. Ebenso ist es mit den Kartoffeln. Beabsichtigt waren drei Zentner, eingetragen wurde jeder mit zwei Zentnern, und beliefert werden die Leute vorläufig nur mit einem Zentner. Hoffentlich bringt mir Frau Hüllen die Kartoffeln.
Frau Schuberts Bauer in Niederbachem verlangt, dass sie sich die Kartoffeln selber holen soll, denn ihm sind seine Ochsen zu schade, dass sie auf der Landstraße totgeschossen
werden. Und auf dem Standpunkt stehen noch mehr Kartoffelbauern. Sie sagen, selbst könnten sie sich ja schnell in Deckung bringen, aber die Ochsen ersetzt ihnen keiner.
Bei den vier Terrorangriffen in Köln sind nur Sprengbomben und Minen gefallen, keine Brandbomben mehr. Dafür ist Köln jetzt in ein Trichterfeld verwandelt, und die Angriffe kosten viele Todesopfer. Eine Dame erzählte, dass sie allein 15 junge Mädchen hat bergen helfen, die in einem Büro arbeiteten, alle tot natürlich.
Vorgestern hat Goebbels in Köln gesprochen. – Ich glaube, die Leute in Finsterwalde ahnen nicht, wie schwer unser Leben hier geworden ist.
Ich mag von solchen Dingen nicht gerne schreiben, aber weil dieser Brief nun doch mal wieder das Thema berührte, kam eins zum andern. Hoffentlich kann ich Dir morgen mal wieder auch von den Kindern erzählen. Aber wir sind eben Frontgebiet geworden.
Viele liebe Küsse, Deine Lotti