Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 15. Oktober 1944
den 15.10.44
Mein lieber Mann!
Ich habe zwei Tage gezögert, Dir zu schreiben, einfach weil ich nicht weiß, worüber ich sprechen soll. Unser Tageslauf ist so beherrscht von der nahen Front und den Fliegern, dass man einfach keine Lust mehr hat, irgendwelche Scenen aus dem häuslichen und dem Kinderleben zu schreiben. Das Rheinland wird ja gründlich kurz und klein von den Bombern zerschlagen. Heute morgen um acht Uhr ging der Rabatz schon wieder los, nachdem uns die letzten Flieger um sechs Uhr verlassen hatten, und Köln musste wieder dran glauben. Wir sahen die Rauchzeichen am Himmel, immer wieder neue, zum Zeichen des Abwurfes, und drei Stunden lang operierten Massen von Kampfverbänden über uns, ohne dass ihnen was geschah.
Und wenn dann als Nachtisch den Tag über immer wieder Flieger kommen, so kann man einfach seine Gedanken auf nichts anderes mehr konzentrieren. Köln hat seit gestern morgen drei Terrorangriffe hinter sich, Duisburg zwei, und so geht das weiter. Nun hört der geregelte Bahnverkehr aber auch hier auf. Keine Auskunft, die man fragt, weiß, wann, wo und ob ein Zug fährt.
Was Dich besonders interessieren wird, ist, dass wir unsere Kartoffeln im Keller haben. Frau Hüllen stand mit dem Ochsenwagen vorgestern morgen, als wir noch alle in den Betten lagen, da, denn sie wollte, ehe die Flieger kamen, wieder zu Hause sein. Einen Zentner Möhren soll ich mir aber noch holen. Lisbeth und ich wollen dann auch morgens um sechs raufgehen, damit wir nicht erwischt werden.
Biederbicks haben mit mehreren anderen ihre Kartoffeln aus der Meckenheimer Gegend holen müssen. Sie fuhren gestern abend nach Einbruch der Dunkelheit rauf und heute vor Tag wieder zurück. Ist das nicht wie seinerzeit in Frankreich? Da traute sich auch bei Tag keiner über die Landstraße, wie Du erzähltest. Aber die Luftüberlegenheit ist genau so, wie Du seinerzeit von der Invasionsfront erzähltest. Es ist oft eine Kunst, nur die Lebensmittel herbeizuholen.
Und Du bist mittlerweile bei Hannover. Ist es gar nicht möglich, irgendeinen Urlaub zu bekommen, auf den irgendein Paragraph passt? Ich kann mir ja anderseits denken, dass es keine reine Freude ist, von Hannover bis Köln zu gelangen, und Verpflegung musst Du Dir schon gründlich mitnehmen. Kannst Du nicht ein paar Tage Urlaub bekommen um mit mir die Abwicklung eventueller Verwaltungs- und anderer Dinge zu besprechen und geschäftliches zu regeln, und auch Werte sicherzustellen? Denn es wäre doch allerlei an Ort und Stelle zu besprechen, ehe die Trennung kommt. Herr Tenter war jetzt auch sieben Tage hier. Auch der junge Ortsiefer konnte aus Warschau kommen, und Ernst konnte aus solchen Gründen ja auch zu Hansi fahren.
Und dann wollte ich Dich auch noch fragen: Ich habe augenblicklich 1.200,- Mk. auf dem Sparbuch und kriege noch etwas dazu. Wäre es nicht gut, wir zahlten Hans Banthien und Hans Schultz die Darlehen zurück. Vielleicht Hans Schultz die Hälfte, so dass ich nicht ganz ohne Mittel dastehe. In der Zeitung stand und das beruht auf Wahrheit, dass in den von den Amerikanern besetzten Gebieten die Mark auf 25 Pf. Gesetzt wurde. Könnte ich also jetzt die Darlehen zurückzahlen, wären wir die Verpflichtung los und ledig, wenn gleich ich glauben würde, dass Hans z.B. gerade jetzt nicht beglückt über die Rückzahlung wäre, weil er auch die Entwertung des Geldes voraussieht. Aber weil ich nicht viel davon verstehe und auch nicht weiß, ob es so richtig ist, wollte ich Dich fragen. Vielleicht wäre es für alle Fälle richtig, Du nähmest das Sparkassenbuch, wenn Du Urlaub bekämest, mit, denn man kann es nach der neuen Regelung überall in Deutschland einlösen, und dann könntest Du vielleicht die Darlehen erledigen. Ich hätte dann allerdings keinen Notgroschenmehr, falls der Unterhalt ausbleibt, aber das Buch wäre in diesem äußersten Falle ja auch nichts mehr wert.
Es interessiert mich, wie lange die Feldpostbriefe brauchen, bis sie bei Dir sind. Laufen sie schneller wie gewöhnliche Briefe?
Jürgen ist schon wieder mal krank. Ich musste ihn heute mit Schüttelfrost zu Bett bringen. Er hat dann ein paar Tage Fieber und ist dann wieder gesund. Ob das der Krieg so mit sich bringt? Wann werden unsere Gören wohl wieder Schule bekommen? An eine Eröffnung der Schulen im frontnahen Gebiet vor Kriegsende glaubt keiner mehr.
Was für ein Unterschied ist zwischen Kriegslazarett und Reservelazarett? Hier stehen überall Schilder an den Straßen: Zum Kriegslazarett, chirurgische Abteilung oder innere Abteilung usw. Ist das dasselbe wie Frontlazarett? Hotel Rheinland ist Lazarett, ebenso Schorlemmer, Böhms Hotel Drachenfels, die Bachstraßenschule, die Burgschule, die ehemaligen Reservelazarette sowieso, die Oberschule für Knaben usw. Man sollte ja meinen, dass sich in einer solchen Ecke voraussichtlich keine größeren Kampfhandlungen entwickeln. Bonn hat auch eine Menge Lazarette bekommen.
Aber trotzdem müssen wir uns Nerven wie Draht anschaffen. Ich bin manchmal richtig am Ende, und das äußert sich am Hals, am Herzen und in Angstkomplexen. Aber stell Dir vor, ich gehe bei keinem Alarm mehr in den Keller oder nachts aus dem Bett, und mögen noch so viele Flieger über uns brummen. Ich meine, ich rege mich nicht mehr auf. Und dabei träume ich jede Nacht von Fliegern und suche verzweifelt Deckung. Also ist diese Ruhe wohl nur eine anerzogene und keine instinktive. Aber der Gedanke, Du könntest ein paar Tage hier sein, lässt ein unbändiges Glücks-und Ruhegefühl in mir aufkommen. Gibt es denn keinen Paragraphen?
Ich hoffe das immer noch.
1000 Küsse
Deine Lotti