Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 24. Oktober 1944
den 24.10.44
Mein lieber Harald!
Gestern und heute bekam ich endlich wieder Post von Dir. Sie ist vom 9.und 11. datiert. Du schicktest auch die Prospekte mit und da kam mir der Gedanke, ob Du uns im Notfall in St. Unterkünfte besorgen könntest. Die N.S.V. teilte mir heute mit, dass mit den Transporten, die jetzt täglich von Godesberg abgehen, jetzt auch Mütter mit kleinen Kindern mitgenommen werden. Ich müsste mir in den Fall eine Bescheinigung und die Bescheinigung für den Räumungsfamilienunterhalt ausstellen lassen.
Wir sehen ja nun das Flüchtlingselend jeden Tag aus nächster Nähe. Augenblicklich stehen sie wieder mit Kisten und Kasten marschbereit auf dem Platz, und gleich kommen die neuen Transporte. Und alles geht nach Thüringen und in die Gegend von Merseburg und Halle. Ich sage immer, da muss es bald aussehen wie der Godesburgbunker bei Alarm, denn der ist dann jedes Mal so voll, dass keine Stecknadel zur Erde fallen kann und keiner rückwärts und vorwärts kann. Entsetzlich.
Zweimal war ich drin, aber das langte. Abgesehen davon wäre er bei Vollalarm schon so schnell voll, dass wir, wenn wir von hier unten ankommen, draußen bleiben müssten.
Aber zurück zum Flüchtlingsproblem. Hier will so langsam alles weg, die meisten wissen auch schon wohin. Auf jeden Fall muss es fürchterlich sein, zuletzt so mit dem ganzen Schwung in die Haller Gegend gestopft zu werden. Stell Dir vor, dass hier alle zwei Tage tausend neue Flüchtlinge im Päda eintreffen, und nie kann das Stroh gewechselt werden. Die Klassen sehen aus wie Ställe.
Oder bist Du heute noch der Ansicht hierzubleiben? Ich meine, solange es geht, tue ich es, aber wenn es mulmig wird, möchte ich, wenn es geht, zu Dir. Ich bekäme also Räumungsunterhalt. Solltest Du dort etwas finden, so kann ich mit einem Transport weg. Das ist die einzige Möglichkeit, denn sonst ist hier der zivile Reiseverkehr gesperrt. Es fährt ja sowieso kein Zug mehr, und ich müsste mich auf der Landstraße mitnehmen lassen. Aber mach das mal mit fünf Kindern, bis man in normale Gegenden kommt.
Hast Du die Eilkarte erhalten? Ich sehe hier öfter Soldaten, die ihrer Familie weghelfen. Ich wüsste auch gar nicht, wie ich das Ganze richtig anfangen soll.
Hast Du eigentlich in der Zwischenzeit Post von mir bekommenb?
Ach, mein Harald, was sind das für Zeiten, und was wird das diesen Winter in Mitteldeutschland geben, wo sich alles aus Osten und Westen zusammendrängen wird?
Und deshalb möchte ich auch nicht dorthin evakuiert werden, sondern in Deine Nähe kommen. Am liebsten ja hierbleiben, wenn das irgend möglich ist. Aber ich nehme an, dass wir nach diesen beiden Angriffen auf Bonn und Godesberg noch mehr bekommen, und da könnte es doch sein, dass ich eines Tages ohne Dach dastände und auch zur Flüchtlingssammelstelle ins Päda wandern müsste. Und dann wäre es doch schön, wenn ich dort angeben könnte, wohin ich gehe.
Den Kindern geht es gut, bloß Helga hat eine wahnsinnige Angst vor dem akuten Alarm. Das ist hier in den frontnahen Gebieten eine neue Einrichtung! Bei Vollalarm geht der Betrieb in allem weiter, aber wenn akuter Alarm ertönt, ist es allerhöchste Zeit, die Schutzräume aufzusuchen, denn dann wird mit einem unmittelbaren Angriff gerechnet.
Dieses Zeichen war nun ab Sonntag gültig, Dienstag ertönte es zum ersten Mal, und damit war der erste Angriff fällig, Mittwoch der zweite. Aber in dem Fall ist natürlich Alarm und Bombenfall so ziemlich eins. Nun reden sich die Leute ein, morgen käme wieder ein Angriff, und Helga will vom frühen Morgen an in den Bunker gehen. Ich habe auch Angst, dass mir Lisbeth genommen wird. Wie es dann weitergehen soll, weiss ich auch nicht. Schuhe werden seit Wochen nicht mehr gesohlt.
Kurz gesagt, zum Briefeschreiben langt hier die Stimmung nicht mehr. Wir leben hier bedrückt und geängstigt, wissen nicht, ob wir morgen noch leben oder unser Haus haben und ob wir in Kürze nicht wegmüssen. Aber kommt der Räumungsbefehl, müssen wir ja, egal, ob sie uns dort unterbringen können oder ob wir den ganzen Winter auf Stroh schlafen müssen.
Harald, versuche doch auf jeden Falle einen Evakuierungsurlaub zu bekommen, damit Du mir hier weiterhilfst. Ich kann das alleine nicht. Es wird ja sicher vierzehn Tage dauern bis Du diesen Brief hast und ob ich dann höchste Eile habe wegzukommen oder ob sich die Situation so zu unseren Gunsten geändert hat, dass wir bleiben können, weiss ich ja noch nicht. Du musst Dich eben nach allem richten, was Du so von Kameraden aus dem Rheinland hörst. Denn es kann ganz gut sein, dass der Briefverkehr wieder so stocken wird.
Ich habe Dich sehr lieb.
Ich sehe eben, dass ich den Durchschlag falsch eingelegt habe. Aber lesen kannst Du es wohl Ich habe auch keine Zeit, einen neuen Brief zu schreiben.
Viele Küsse, Deine Lotti