Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 3. November 1944

den 3.11.44

Mein lieber Mann!

Die Luft hier wird immer drückender und unheilvoller. Und wenn man dazu das Flüchtlingselend hier auf dem Pädaplatz sieht, ist man ganz auseinander. Das Päda kann den Strom nicht mehr fassen. Ein großer Teil steht schon den dritten Tag hier und kann nicht abfahren. Immer wieder werden die Züge von der Wehrmacht beschlagnahmt.

Wir haben auch für ein paar Nächte Einquartierung, eine junge Frau mit einem 14 Tage alten Baby, einem fünf Jahre alten Mädchen und ihrer Mutter. Ich habe ihnen im Biedermeierzimmer, teils auf dem Sofa, teils auf Erde, der Chaiselongue und dem Baby im alten Körbchen Platz geschaffen.

Schwinger und Seufert plädieren jetzt unter allen Umständen fürs Weggehen. Schwinger, der ewige Optimist, glaubt jetzt auch, dass hier Kampfgebiet wird. Er will seine Familie auch wegtun und dann selber nachkommen, denn er ist ja stellungslos geworden. Trennt er sich auf längere Zeit von ihr, wird die Trennung, wie er meint, ziemlich endgültig werden. Das befürchte ich auch, wenn ich einen Teil der Kinder weggebe. Wiedersehen werde ich sie wohl nicht. Und ich weiß nicht, welches Kind ich abgeben soll.

Aber sich unter allen Umständen

[Rest fehlt]

[Bruchstück, vermutlich zum obigen Brief]

…Häuser zitterten und bebten und die Scheiben in der Lessingstraße und Schillerstraße herausfielen. Das gibt Dir vielleicht einen Begriff von der Wucht des Angriffs. Viel braucht es nicht mehr, um das Leben in der Stadt völlig auszulöschen.

Bitte, sieh, dass Du Urlaub bekommst, es ist so nötig, dass Du hier hilfst. Du kannst an Ort und Stell entscheiden, ob Du schon alle Kinder mitnimmst oder erst einen Teil oder mich sofort mit. Du meintest ja, es sei gut, sich sein Heim zu erhalten, aber was würde es Dir nützen, wenn Du z.B. mit den Kindern im unbesetzten Teil wärt (wenn es Kampfgebiet würde) , und ich säße hier, von Euch allen vielleicht auf Jahre getrennt oder, wie hier immer in den Zeitungen steht, einkassiert zu Arbeiten in den früher von uns besetzten Gebieten (und das ist gar nicht so ausgeschlossen, dass sie das mit mir machen würden, bliebe ich allein hier). Dann sähst Du mich vielleicht nie wieder.

Ach, Harald, welche Perspektiven eröffnen sich überhaupt? Darum, wenn die Kinder weggehen, möchte ich auch in Kürze nachkommen. Ich ertrüge es nicht, in Ungewissheit über ihr weiteres Leben zu bleiben. Ich leide schon genug darunter, das Deine Post immer drei Wochen alt ist, und höchstwahrscheinlich klappt sie bald überhaupt nicht mehr. Ach, Harald, wo ist eine Zuflucht für uns? Hier sagen alle, und sogar die von der N.S.V., wenn wir in einigen Tagen oder Wochen drankommen, wird für uns in Mitteldeutschland ja bloß noch der nackte Boden übrigbleiben. So gut, wie die hier versorgt werden, werden wir nicht mehr, und wie jammervoll hausen die schon.

Das kleine Baby schläft hier nebenan ruhig ins Leben. Die anderen essen im Päda. Heute sind schon die ersten Nonnen gekommen von den Köln(er) Krankenanstalten, die nächste Woche alles...