Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 6. Dezember 1944

den 6.12.44

Mein lieber Mann!

Eben bekomme ich zwei Briefe von Dir als Nikolausgeschenk. Die grüne Marke lag ebenfalls bei, aber ich kann vorläufig keine Plätzchen backen. Ich habe noch immer kein weißes Mehl bekommen, frage täglich danach, weiß aber nicht, wann es welches gibt. Den Kindern habe ich zu Nikolaus Plätzchen aus Roggenmehl und Wasser, ohne Fett und ohne Eier, nur mit etwas Gewürz gebacken. Ich finde aber wirklich nicht, dass es sich lohnt, sie zu verschicken, davon habe ich nämlich noch welche. Wirklich, damit kann ich Dir keine Freude machen. Sollte ich aber irgendwo noch weißes Mehl bekommen, bevor der Schlusstermin ist, schicke ich Dir sofort welche.

Ich hatte vor, mit Fräulein Möckel die Reise nach Frielendorf zu machen, d.h., sie wollte nach Gießen. Wir wollten abends hier wegfahren. Gestern sollte die Fahrt steigen. (Eine Bescheinigung zum Wegbringen von Sachen hatten wir). Sie scheiterte zum Schluss an dem heftigen Widerstand der Eltern, die meinten, sie wollten uns nicht wegen zwei Koffern ins Gras beißen lassen. Denn gerade gestern trieben die Tiefflieger hier im Rheinland ein Spiel wie überhaupt noch nie. Hinterher erfuhren wir dann, dass sie vorgestern Gießen kaputt geschmissen haben, so dass der Zugverkehr dort lahmgelegt ist, so dass wir gar nicht weitergekonnt hätten. Vorige Woche konnte ich ja nicht fahren wegen Jürgens Masern. Heute Nacht sagte der Flakfunk, dass die Verbände aus dem 'Großraum Marburg und Gießen' wieder abfliegen. Da hätten wir wahrscheinlich mittendrin gesessen.

Die Abreise hier wird immer schwieriger. Ein Transport ging gestern morgen los, bei dem auch die geborene Fecht war und Frau Dr. Kolfhaus, nachdem sie achtmal !!! mit ihrem Gepäck zur Bahn bestellt wurden, also eine ganze Woche lang. Nun mach das mal, wenn alle Betten und Kleider schon verladen sind. Als der Zug abfuhr, hatten sie dann viel zu wenig Waggons bekommen, so dass alle wie die Pökelheringe saßen, und dann fuhr der Zug buchstäblich mit ihnen ins Blaue. Zuerst bis Remagen, dann über die Brücke und dann wieder rheinabwärts, um sich über Köln ins Reich zu schlängeln, weil die Strecke Gießen unpassierbar ist. Und das an einem Tag, an dem die Tiefflieger unmäßig hausten.

Ich weiß nun wirklich nicht, wie ich nach Frielendorf kommen soll. Ich hatte mir für die gestrige Reise eine Bescheinigung ausstellen lassen, die leider befristet ist und die ich nach langem

Kampf bekommen habe. Denn Bescheinigungen, um Sachen in Sicherheit zu bringen, dürfen nur noch ausgegeben werden, wenn die endgültige Evakuierung in acht bis zehn Tagen erfolgt.

Ich habe gesagt, dies würde höchstwahrscheinlich geschehen, sonst hätte ich sie nicht bekommen. Nun ist in den nächsten Tagen ein Fortkommen über Gießen unmöglich, denn heute morgen waren sie auch wieder dort, ebenso ist in Vallendar gehaust worden. Wir wollten nämlich auf der rechten Rheinseite fahren, weil wir auf der linken um zwei Uhr wieder hätten fahren müssen, um den Zehnuhrzug aus Koblenz zu bekommen, und gerade dieser Zug wird von Tieffliegern hergenommen und hatte vorgestern, wie der Bahnbeamte sagte, drei Volltreffer mit siebzig Toten und Verletzten.

Verschicken mit Fracht- oder Expressgut kann man nun schon seit Monaten nicht mehr. Erlaubt sind 500-Gr.-Pakete, und das lohnt sich nicht. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, und muss eben handeln, wie es der Augenblick gebietet. Aber so geht es allen. Die, die weg sind, sind ebenfalls kreuzunglücklich und möchten unter allen Umständen wieder zurück. Es ist schon ein belämmerter Kram. Dass Frau Hillenbrand aus dem Odenwald schon wieder weg ist, weil dort Luftminen gefallen sind, schrieb ich dir ja. Nun ist sie in Grimma in Sachsen. Ob sie in dieser Industriestadt nun richtig sitzt, bezweifle ich.

Für den Januar haben wir die schöne Aussicht, dass wir statt 700 Gr. Fett monatlich nur 500 Gr. Kriegen (6 x 200=1200) incl. der Butter zum Schmieren, die auf diese Weise nun wohl fast ganz wegfällt, und dazu pro Kopf anderthalb Pf. Zucker weniger, und das ist gerade der Abschnitt, auf den ich mir immer die Marmelade geholt habe. Wir essen also ab Januar trockenes Brot. Wie ich dann die Kinder sattkriegen soll, weiß ich nicht. Jetzt kommt der Hunger, nicht nur auf der linken Rheinseite, denn die Sätze gelten auch drüben. In Thüringen sollen die Leute irrsinnige Preise für ein Brot zahlen, d.h. die Rückgeführten, weil sie mit dem Gasthausessen naturgemäß nicht satt werden können, und die wenigsten können sich in ihren Notquartieren etwas kochen. Die Schuhe, die ja nun seit September beim Schuster sind, habe ich immer noch nicht, und seit diesem Monat warten hier Regimenter von Schuhen, die naturgemäß immer grösser werden auf die Besohlung. Ab Januar sollen sie vielleicht wieder angenommen werden. Und wann bekomme ich sie dann? Sieh mal, Harald, davon merkt ihr in Euren schönen Horsten nichts. Ihr werdet auch weiter Eure Butter bekommen, Euer Fleisch und Eure Marmelade. Ihr werdet zu Weihnachten auch Eure Sonderzuteilungen an Süßigkeiten und Alkohol kriegen, während es dieses Jahr für die Bevölkerung als Sonderzuteilung nicht mehr als 'zwei Eier' gab, nachdem wir zwei Monate …

[Rest fehlt]

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… Ich kam dann nach Hause und wurde noch einmal von einer Woge des Hin- und Her ergriffen, so dass ich mich ganz verzweifelt zu Bett legte und auf eine klare Antwort des Schicksals hoffte, die mir über Nacht kommen sollte.. Am nächsten Morgen hatte Jürgen die Masern. – Nun sitzt er gemütlich im großen Sessel am Ofen schön zugedeckt und redet wie ein Buch. Ich muss ihm gleich eine Weihnachtsgeschichte vorlesen. Er ist sehr mager geworden. Ursel Siefken hat nun die Masern.

Ich habe mich so über Helgas und Ursels Brief gefreut, den sie dir geschickt hatten. Ich habe noch keinen von ihnen bekommen, wohl aber eine Karte, in der sie mir von einem Brief, den sie ein paar Tage vorher abgeschickt hätten, schrieben.

Ich glaube nun doch, ich muss Weihnachten auf Euch alle drei verzichten. Ich mache auf jeden Fall für Ursel und Helga ein 500 gr. Päckchen, damit sie etwas haben, wenn sie nicht hier sind. Ein Bilderbuch für Sibylle lege ich bei.

Ob ich Dich Weihnachten sehe? Ich wage ja nicht, auf ein solches Glück zu hoffen. Aber schließlich könnte es doch passieren. Immerhin können wir beide uns ja nicht beklagen, was das Sehen im Krieg angeht, aber ich bin in dieser Beziehung richtig gefräßig. Liegt Ihr immer noch in der Aufrüstung? Könnt Ihr nicht in unsere Gegend verlegen? Schlags Deinem Commodore doch vor.

Gestern abend saß ich im Sessel am Ofen bei einer Kerze und träumte in der Vergangenheit herum. Ich dachte wieder an den Knuddel Papier und den Teewagen, überhaupt an unsere schönen Weihnachtsfeste mit unserer Extrafeier zum Schluss.

Übrigens habe ich endlich die Lavendelseife angebrochen, aus Seifenmangel. Sie duftet wundervoll, und ich habe jedes Mal beim Waschen eine Vision von etwas Friedensmäßigem und Gepflegtem und Luxuriösem. Etwas, was mich aus dem Krieg herausträgt. Ich wasche mich auch nicht immer damit, sondern nur, wenn ich mich recht schön machen will, denn mittlerweile haben wir ja auch die Kriegsseife wieder. Ach, ich danke Dir für so viel Liebes, das ich von Dir hatte.

Und damit mache ich Schluss. Wenn der Brief nicht sehr schön ist, so denke, dass ich immer eilig zwischen der Arbeit schreibe. Sonst käme ich überhaupt nicht dazu. Heute abend bin ich bei Frau Westerndorf eingeladen.

100 liebe Küsse Deine Lotti