Charlotte Endemann an ihren Mann Harald, 24. Dezember 1944

den 24.12.44

Mein lieber Mann!

Was wir kaum zu hoffen wagten, ist doch wahr: Wir feiern Weihnachten in unseren eigenen Räumen. Und es ist wie immer. Ich habe jetzt das Weihnachtszimmer fertig, es ist kurz vor Mittag, im Radio ist Händelsche Musik, und Du kriegst nun einen Brief. Ich hatte die letzten Tage nicht geschrieben, weil ich das dumme Gefühl hatte, dass es sich nicht lohnt und Du den Brief nicht bekommst, weil Ihr nun verlegt seid. Vielleicht bekomme ich den Brief nun eines Tages zurück, und die Mühe war vergebens. Deine letzte Post ist vom 26.11.44 und kam Nikolaus an.

Was mögen Helga u. Ursel jetzt machen? Ich möchte sie nun doch wiederhaben. Helga schrieb mir einen Heimwehbrief, den sie wohl heimlich in den Kasten gesteckt hatte. Das arme Wurm.

In das Weihnachtszimmer scheint die Mittagsonne, aber es sind morgens sieben Grad Kälte gewesen. Der Baum ist dieses Mal klein und steht auf einem Tisch im Erker, weil wir das Heizen beider Zimmer

nicht durchhalten können. Im Biedermeierzimmer steht auf dem Tisch ein Strauß Edeltanne mit silbernen Kugeln. Wir essen auch dort, weil wir das Esszimmer nicht zu heizen wagen.

Die Kinder werden sich freuen. Kaufladen, Puppenzimmer und Schaukelpferd sind neu hergerichtet. Anna Vortmann brachte reizende Bilder- und Geschichtenbücher aus dem Bachem-Verlag, in dem sie ja angestellt ist. Was aber der Clou des Abends sein wird: ein Auto zum Selberfahren. Es ist ein Erbstück von den Steinschen Kindern. Und für Klaus Soldaten und ein Schützengraben. Anita hat bei mir dagegen einige Bücher für Dirk eingetauscht. Das Auto ist zwar etwas angerostet, wirkt aber dadurch wie ein getarntes Auto. Jürgen wird morgen damit wohl klappernd durch die Gegend sausen oder vielmehr kriechen.

Die Kinder haben voll Eifer drüben ihre Geschenke gepackt. Jürgen hat seins schon zertreten und dafür Hiebe von den beiden anderen bezogen.

Ich denke heute den ganzen Tag an Dich und die Kinder.

Heute abend um sechs wird es ganz besonders sein. Ich weiß bloß nicht, wo ich Dich suchen soll.

Wir hatten zu Weihnachten keinen Apfel im Haus. Zugeteilt werden keine. Ich hatte Pölls gefragt, Jülichs, Frau Euler, Frau Klausen, - jeder bedauerte, nicht helfen zu können, und plötzlich, seit gestern, kriege ich von allen Seiten, bei denen ich gefragt habe, Äpfel ins Haus gebracht, so dass ich nun schon über einen halben Zentner zusammenhabe, 10 Pf. von Pölls, 10 Pf. von Frau Klausen, 5 Pf. von Frau Euler usw.

Jetzt haben wir gegessen. Die traditionelle Erbsensuppe, und die Kinder liegen in den Betten zum Mittagsschlaf. Am Weihnachtsabend haben sie es auch immer nötig. Heidi gähnte vorhin herzbrechend, so hatte sie sich überfreut.

Es ist mir immer wieder wie ein Traum, dass wir doch Weihnachten so wie immer feiern. Vor vierzehn Tagen sah die Aussicht darauf noch ganz anders aus. Zu essen haben wir auch sehr schön. Wir haben redlich Mangel gelitten in den Wochen vor-

Zum Kaffee gibt es den üblichen Weihnachtsstollen, wenn er auch grauer ist wie früher. Zum Frühstück Käse und Wurst morgen. Alles ist so wie immer. Aber wie haben wir uns auch in den vergangenen Wochen mit diesen Genüssen trösten müssen, wenn es immer nur Kartoffelsuppe und Wirsing ohne Fleisch und Fett gab.

Wie und wo magst Du den Heiligen Abend verbringen. Sind wir wenigstens im weihnachtlichen Rundfunkprogramm zusammen?

Soeben kommt wieder akuter Alarm. Die Flieger sind seit halb neun ununterbrochen dran. Wenn doch der verflixte Krieg aufhörte.

Viele, viele, viele liebe Küsse
Deine Lotti

Ich habe dieses Jahr keine Weihnachtsbriefe geschrieben. Ich habe keine Lust und wer weiß, wann sie ankommen.